In diesem Blog möchte ich in herausfordernder Absicht die These vertreten, daß es heute eigentlich keine (offenen) Grundlagenfragen in der Mathematik mehr gibt. Diese These ist natürlich cum grano salis zu verstehen, und soll in erster Linie zu Widerspruch herausfordern, wobei eben die Formulierung noch als offener Fragen provoziert werden sollen – jeder Leser ist also herzliche dazu eingeladen, dieser These zu widersprechen und noch offene Grundlagenfragen aufzuzeigen.
Meiner These liegt im wesentlichen eine historische Beobachtung zugrunde: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (und schon davor) waren es die führensten Köpfe der Mathematik (hier denke ich in erster Linie an Hilbert und Poincaré) und auch die unmittelbar folgende Elite der Mathematiker (wie Weyl und Brouwer), die sich mit Grundlagenfragen der Mathematik beschäftigt haben. In der zweiten Hölfter des 20. Jahrhunderts werden diese Frage unter Mathematiker aber überhaupt nicht mehr diskutiert (man beachte vor allem Bourbakis “Scorn for Logic”). Dieser Umstand führt zu der Vermutung, daß – für die Mathematiker selbst – kein Problem mehr vorliegt (andernfalls sollten sie sich doch dazu äußern).
Um die These weiter zu substanzieren, sollte man sich nun die Grundlagenfragen, so wie sie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts (von den Mathematikern) diskutiert wurden, auflisten und sehen, wie modern Antworten (Lösungen) dazu aussehen.
Dies will ich später hier noch ausführen; im Augenblick beschränke ich mich aber auf die (aus meiner Sicht) “verbliebenen” Fragen.
Welche Fragen kann man heute noch als offen betrachten?
- Das genaue Verhältnis von Formalismus und Inhaltlichkeit; genauer: Wie ist Inhaltlichkeit in der Mathematik zu verstehen?
Ich sehe hier enge Verwandschaft mit dem heute eigentlich vollständig verstandenen Unterschied von Syntax und Semantik, es gibt aber gewisse Unterschiede (vor allem im Verständnis von “Inhaltlichkeit” bei Hilbert), die noch genauer zu untersuchen zu wären. - Welche mathematische Relevanz haben starke Erweiterungen der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre (ruhig mit dem Auswahlaxiom, ZFC)?
Tatsächlich reicht ZFC als Grundlagentheorie für den bei weitem größten Teil der Mathematik aus (vgl. etwa: Moschovakis, Notes on Set Theory, Springer). Erweiterungen von ZFC um z.B. starke Kardinalzahlen stellen uns tatsächlich noch vor ungeklärte Fragen, ob und wie diese Kardinalzahlen grundlagentheoretisch zu “verstehen”, “einzusehen” oder zu “rechtfertigen” wären. Dies wird z.T. als ein bestehendes Problem für die moderne Fundierung der Mathematik durch die Mengenlehre betrachtet wird. Sollte sich aber dafür argumentieren lassen, daß diese starken Kardinalzahlen keine “unmittelbare mathematische Relevanz” (diesen Begriff gilt es dann aber natürlich erst noch zu spezifizieren) haben, ist es vertretbar, zu argumentieren, daß diese “innermengentheoretischen” Grundlagenfragen eben nicht mehr “mathematische” Grundlagenfragen sind.
Dann gibt es natürlich noch eine ganze Reihe historisch-philosophischer Fragen. Z.B., was sollte man genau unter Hilberts “Finitismus” verstehen? Es ist aber ein Teil der hier vertretenden These, daß diese Fragen – trotz des berechtigten Interesses, das man an ihnen haben sollte – keine unmittelbare Relevanz mehr für die aktuelle Mathematik haben.